Ein Bericht von Tamina Kirsch, Mitglied des 11. KiJuPa, zur Stolpersteinaktion
Um 15 Uhr trafen wir uns bei strahlendem Sonnenschein vor der jüdischen Gemeinde. Unsere kleine Gruppe war bunt durchmischt, alle Altersgruppen waren vertreten, was zu einer warmen, fast familiären Atmosphäre führte. Mit Lappen und Putzmittel bewaffnet zogen wir los, um die nach dem Winter doch schon sehr verschmutzten Stolpersteine zu säubern.
Jede der kleinen Metallplatten ist einer/m während der Nazi-Zeit ermordeten Jüdin oder Juden gewidmet und in die Nähe der Häuser eingelassen, in denen die Menschen bis zu ihrer Deportation gelebt haben. Neben dem Namen sind die Stolpersteine mit den Geburts- und Todesdaten versehen und gerade die teils sehr kurzen Lebensspannen führen gut vor Augen, was für ein furchtbarer Grauen der Holocaust war.
Ein Mitglied der Geschichtswerkstatt hatte den Lebensweg der Marburger Jüdinnen und Juden recherchiert und skizzierte das Leben der einzelnen Personen anhand wichtiger Ereignisse. Die Schicksale der Menschen gestalteten sich dabei sehr unterschiedlich. Während manche, wie Fanny und Karl Lion, mit der Deportation geradewegs aus ihrem Familienleben gerissen wurden, zeichnete sich die Schreckensherrschaft der Nazis bei der Lehrerin Hedwig Jahnow bereits vor der Deportation in langen Gefängnisaufenthalten ab. Besonders bewegend ist das Schicksal des deutschen Sprachwissenschaftlers und Universitätsprofessors Hermann Jacobsohn. Das Sprachgenie lehrte als ordentlicher Professor an der Universität in Marburg und war Leiter des „Deutschen Sprachatlasses“. Die Straße, wo sich das Gebäude befindet, wurde ihm zu Ehren „Hermann-Jacobsohn-Weg“ genannt und noch heute profitieren Sprachwissenschaftler von seinen Werken. Als er 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus dem Dienst entlassen wurde, nahm er sich das Leben.
Ziel der Aktion war es, den ermordeten Menschen zu gedenken, weshalb wir jeden gesäuberten Stein mit Blumen und Kerzen versahen. Die schweren Schicksale dienen als Mahnmal für die Gegenwart und Zukunft und sollten nicht in Vergessenheit geraten.
Die Stolpersteine werden vom Künstler Gunther Demnig verlegt, der mit seiner Aktion die Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit aufrechterhalten möchte. Da die Steine teils unmittelbar vor die ehemaligen Wohnungen der Verfolgten gelegt werden, kommt es immer wieder zu Klagen der dort ansässigen Anwohner. Während einige Bewohner sich lediglich nicht gerne mit Deutschlands Vergangenheit beschäftigen möchten, sind andere an manchen Orten sogar schon Opfer von Anfeindungen geworden, da sie das Haus derer übernommen hätten, die vertrieben wurden und somit davon profitiert hätten. Der Einwand der Bewohner gegen die Stolpersteine hat also durchaus seine Berechtigung.
Gleichzeitig sollte auch die deutsche Gedenkkultur erhalten bleiben, denn die Opfer der NS-Zeit sind zu zahlreich, ihr Tod zu schrecklich, um vergessen zu werden. Denn dies wäre nicht nur ein Vergehen gegenüber ihren Nachkommen, sondern auch gegenüber unserer Kultur. Die Vergangenheit kann nicht ungeschehen gemacht werden, daher sollte man daraus Lehren für die Zukunft ziehen und dafür sorgen, dass sich Deutschlands schreckliche Geschichte nicht wiederholt.
Die Stolpersteine sind daher ein guter Kompromiss: klein genug, um nicht sofort ins Auge zu fallen, und doch gut lesbar, damit aufmerksame Passanten einen Augenblick innehalten können.
Insgesamt finde ich, dass die Stolperstein-Aktion sehr erfolgreich war. Die Messingsteine erstrahlen nun wieder gut lesbar in neuem goldenem Glanz und setzen ein Zeichen der Erinnerung, das gerade angesichts der jüngsten Vorfälle des Antisemitismus in Deutschland sehr wichtig ist. Es gibt in der Marburger Innenstadt noch viele weitere Stolpersteine, die dringend gepflegt werden müssen, weshalb die Stolperstein-Aktion hoffentlich auch nächstes Jahr wieder stattfinden kann.
Ein Text von Tamina Kirsch